Gestern war ja
Chaosradio zum Thema Wikipedia bzw. der derzeitigen Kontroverse von Exkludismus und Inkludismus. Ich habe mir erlaubt, den meisten Teil der Sendung per
Twitter zu verfolgen (ausgenommen der Zeit, wo
ich telefoniert hab), und möchte einige der Vorschläge, die in der gestrigen Sendung eingebracht und diskutiert wurden, hier noch einmal zusammenfassen und die Diskussion an sich kommentieren. Teilnehmer der Diskussion waren übrigens Marcus Richter (der Moderator), Sargoth (ein Wikipedia-Admin) und
Frank Rieger vom CCC.
Am Anfang dümpelte die Diskussion ja etwas dahin, wobei es doch immerhin zu ein paar interessanten Äußerungen kam: so meinte etwa Sargoth, selbst fundamentale Artikel wie
Demokratie wären seiner Ansicht nach in einer absoluten schlechten Verfassung und müssten dringend neugeschrieben werden. Allerdings verstieg er sich später leider in dem Versuch, ad-hoc Relevanzkriterien für Computerspiele zu definieren, was meiner Meinung nach nicht wirklich produktiv war.
Aber schon, was der erste durchgestellte Anrufer zu sagen hatte, fand ich hochinteressant: dieser hatte lt. seinen Angaben einen Artikel über ein Jugendfilmfestival geschrieben (derer es anscheinend nicht wirklich viele gibt), und detailliert aufgezählt, an welchen Wikipedia-Vorgaben und Regeln bezüglich guter Artikel er sich gehalten hatte. Trotzdem wurde dieser Artikel wegen angeblich mangelnder Relevanz gelöscht, was den Autor offenbar ziemlich frustriert hat (man merkte diesen Frust regelrecht in seinen Redebeiträgen), nicht zuletzt aufgrund der vielen investierten Zeit in Artikel und Löschdiskussion. Frustrierte Ansage als Abschluss: "ich würde keinen Artikel mehr anlegen, denn ich will keinen Stress mehr mit Wikipedia haben".
Dann ein paar andere Anrufer und Diskussion, die ich leider nicht mitbekommen habe, weil ich mich natürlich selbst zu Wort melden musste mit meinem Dilemma zum Artikel
Musterung (hört selbst rein), und hab damit auch gleich einen kleinen Edit-War ausgelöst...
Frank Rieger sprach sich dann dafür aus, dass auch "irrelevante" Artikel lesbar sein sollten, und meinte damit Artikel die gelöscht wurden, auf die offensichtliche Löschgründe wie Urheberrechtsverletzung, Ehrenbeleidigung, o.ä. nicht zutreffen würden. Das ist ein Vorschlag, den man schon oft gehört hat, und der auch von vielen Seiten als "triviale" Lösung für den Konflikt gesehen wird. Dann sprach er den
Wikipedia-Kurier-Artikel an, dem ein seiner Meinung nach elitäres Denken und eine verächtliche Position sowohl der Blogosphäre als auch der Wissenschaft gegenüber anhängt, und sprach einen großen Widerspruch an: einerseits werden Leute mit Fachwissen von der Wikipedia händeringend gesucht, andererseits findet man solche PR-Desaster, und trotz dieser sehr gespaltenen Position wird von Wikipedia-Autoren eine besondere Genauigkeiten verlangt, obwohl Wikipedia nicht einmal selbst einen wissenschaftlichen Anspruch hat und sich auch nicht als zitierfähige Quelle sieht und versteht.
Ein weiterer sehr interessanter Vorschlag, vorgebracht von einem Anrufer, war auch der, Wikipedia in einem größeren Kontext zu sehen, und zwar als Teil einer Gesamt-Wissensdatenbank (das ursprüngliche Wikipedia-Ziel), von der die Wikipedia eine echte Untermenge bildet, d.h. in der Gesamt-Wissensdatenbank sind nur bestimmte Artikel als "enzyklopädisch relevant" markiert. In eine ähnliche Richtung geht auch ein weiterer Vorschlag, Wikipedia allgemeiner zu halten, und spezielleres Wissen in "Spezial-Wikis" oder "Fach-Wikis" auszulagern, derer es ja mittlerweile recht vieler gibt, ich denke da etwa an
Indiepedia und
Camerapedia als zwei von vielen Beispielen.
Im letzten Viertel der Sendung kam es schließlich zu einer Telefon-Liveschaltung mit
Fefe, der ja mit seiner
umfangreichen Berichterstattung die Wikipedia-Kontroverse erst so richtig bekannt gemacht hat und ihr auch einen gewissen Schwung gegeben hat. Er vertrat wie schon in seinen Blogartikeln eine sehr offensive Position, und forderte etwa, dass die Relevanzkriterien neu definiert werden müssten. Er argumentierte, dass die allermeisten User, wenn sie nach etwas suchen, einfach einen Suchbegriff in Google eingeben würden. Bei vielen allgemeinen Themen würde als erster Treffer eine Wikipedia-Seite erscheinen, was einen großen Erfolg für die Wikipedia darstellt, denn immerhin steckt hinter diesem Ziel, erster bei Google zu sein, eine Multi-Millionen-Dollar-Industrie. Selbst irgendein (schlechter) Wikipedia-Artikel wäre da besser als garkein Wikipedia-Artikel, denn im Gegensatz zu jeder anderen beliebigen Quelle biete Wikipedia die tatsächliche Möglichkeit für User, die (schlechten) Artikel zu verbessern. Auch Wikipedia-Artikel ohne enzyklopädische Relevanz haben unter diesem Gesichtspunkt einen Mehrwert für die größte Zielgruppe, nämlich Google-User.
Schließlich wurde die Diskussion noch in Richtung Technik gelenkt. Frank Rieger sagte ziemlich offen, dass das
MediaWiki, die Wiki-Software, die bei Wikipedia und verwandten Projekten eingesetzt wird, technisch im Jahr 2003 stehengeblieben ist. Hier sollte es mehr technische Hilftsmittel geben, um Usern die Verbesserung von Artikeln möglichst zu vereinfachen. Er erwähnte auch, dass der
Wikimedia Deutschland e.V. auf nicht unbeträchtlichen Spendengeldern sitzt, von denen nur ein Bruchteil dafür verwendet wird, einen Toolserver für Wikipedia zu betreiben. Er schlug vor, dieses Geld stattdessen in die Hand zu nehmen und in die Weiterentwicklung von MediaWiki zu investieren. Fefe schlug in diesem Kontext auch vor, dass Wikimedia die Ressourcen und die Möglichkeiten hätte, selbst eine Deletionpedia umzusetzen, die von Wikipedia gelöschte Artikel enthält. Für die deutsche Wikipedia gibt es ja bereits Projekte wie
Wiki-Waste, die jedoch deutlich unterdimensioniert sind an Ressourcen.
Schließlich wurde noch auf das
Diskussionspanel am 5. November in den Vereinsräumen von Wikimedia Deutschland hingewiesen, und Sargoth schloss mit dem für mich sehr bemerkenswerten Satz, dass die Wikipedia seit ihren Anfängen auch etliche Leute anzogen hat, die Freude daran haben, Artikel zu schreiben bzw. an Wikipedia mitzuarbeiten, sich jedoch mit dem OpenSource-Gedanken nicht identifizieren, und sich auch in konsensorientierte Arbeit noch einfinden müssen.
Mein Fazit ist auf jeden Fall, dass diese zweistündige Diskussionrunde sehr interessant, produktiv und auch konstruktiv war, denn es wurden nicht nur Kritikpunkte an der Wikipedia aufgezählt, sondern auch konkrete Vorschläge vorgebracht, was man an Wikipedia verändern bzw. verbessern könnte. Wie sich diese Diskussion weiterentwickelt, wird sich wohl erst am 5. November zeigen. Und auch das Live-Twittern hat mir Spaß gemacht, auch wenn das stressiger ist, als man sich das denkt.